Corona-Maßnahmen : Warum es keine Herdenimmunität geben wird

Von Joachim Müller-Jung

Redakteur im Feuilleton, zuständig für das Ressort "Natur und Wissenschaft".

-Aktualisiert am 17.05.2021-12:41

Die Herdenimmunität war lange in aller Munde. Inzwischen scheint sie unerreichbar. Was bedeutet das?

Wie müssen wir uns das Ende der Pandemie vorstellen, jetzt, wo die Menschen überall im Land ihre Freiheit zurückbekommen? Natürlich ist die Katastrophe mit fast schon dreieinhalb Millionen Toten auf der Welt nicht vorbei, alles andere als das, aber der Blick geht lieber nach Großbritannien als nach Indien, lieber nach Amerika statt Brasilien. Auch Israel ist zum Goldstandard fürs Corona-Krisenmanagement geworden. Einen einzigen Covid-Toten gab es zuletzt in vier Tagen, fast zwei Drittel der neun Millionen Menschen im Land sind mindestens einmal geimpft.

Zum Glück keine schwarzen Schafe: Herdenimmunität bleibt wohl ein unerreichbares Ziel.
Bild: Mauritius

In den Vereinigten Staaten sind es auch schon mehr als ein Drittel mit komplettem Impfschutz, fast die Hälfte hat eine Dosis erhalten, und bis zum Unabhängigkeitstag am 4. Juli sollen mindestens siebzig Prozent nach dem Willen des amerikanischen Präsidenten eine Impfung erhalten haben. Ein Wort kam in seinen Ausführungen allerdings nicht vor, nicht mehr: Herdenimmunität. Spielt das Konzept noch eine Rolle?

In den achtziger Jahren von Infektionsforschern geprägt, setzte sich der Begriff in der Pandemie endgültig durch, vor allem im politischen Raum. Während der ersten Welle im vergangenen Jahr entdeckten ihn zunächst Kritiker der Corona-Maßnahmen. Amerikas ehemaliger Präsident Trump verwendete ihn, Brasiliens Präsident Bolsonaro hantierte damit und zeitweise auch der britische Premierminister Johnson - allerdings in einem ganz anderen Sinn, als Infektiologen und Epidemiologen ihn verwendeten.

Unermesslich hoher Preis

Der Begriff wurde zur politischen Waffe: Zum Schutz von Wirtschaft und Freiheit sollten sich möglichst viele infizieren. Wer nicht Senior war, sollte so immun werden. Das medizinische Konzept war ad absurdum geführt worden. Formal ist Herdenimmunität zwar erreicht, wenn ein ausreichend großer Teil der Bevölkerung immun geworden ist, so dass die Virusübertragungen eingedämmt und diejenigen indirekt geschützt werden, die man anderweitig nicht schützen kann - kleine Kinder also, Schwerkranke und Menschen mit transplantierten Organen. Wenn diese Schwelle allerdings dadurch erreicht werden soll, dass man die Bevölkerung unkontrolliert mit einem neuartigen Erreger durchseucht, wäre der Preis bei einem Virus wie Sars-CoV-2 unermesslich hoch. Viele Tote wären die Folge, selbst wenn die allermeisten Erkrankungen scheinbar harmlos verlaufen.

Gerade in Indien, hier Teilnehmer einer Studie in Ahmedabad im Januar, wäre wegen des Impfstoffmangels eine Herdenimmunität hilfreich.
Bild: AP

Seitdem die ersten Impfstoffe verabreicht wurden, führt der Begriff ein neues oder vielmehr: sein altes Leben. Nicht Durchseuchung, sondern die möglichst konsequente Immunisierung mit Vakzinen ist das Ziel. Impfsolidarität statt Sozialdarwinismus. Mit jeder einzelnen der mittlerweile mehr als eine Milliarde verabreichten Impfdosen erlangte das Konzept seine eigentliche Bedeutung zurück.

Herdenimmunität wird wohl nie erreicht

Fünf Tage nach Joe Bidens Amtseinführung und auf dem Höhepunkt der opferreichen Virusschlacht im Land wurde Herdenimmunität durch Massenimpfung von ihm als erstes großes innenpolitisches Ziel ausgegeben. Und da begann die Welt zu rechnen: Wie viele müssen bei uns geimpft werden, damit das Virus schachmatt gesetzt ist? Die Begeisterung ist inzwischen in ganz Europa angekommen. Genauer gesagt: Sie hat sich dorthin verlagert, wo man endlich auch immunologische Morgenluft schnuppert. Denn in Israel, Großbritannien und vor allem in Amerika wird Herdenimmunität nun plötzlich nur noch unter Vorbehalt als Chiffre für das ersehnte Pandemieende verwendet.

Biden hat von seinen Fachleuten gelernt, dass das Virus wohl nicht mehr verschwinden wird, dass vor allem die unter Anhängern der Republikaner verbreitete Impfskepsis wie ein betonschwerer Klotz am Bein hängt und auch deshalb Herdenimmunität wohl nie erreicht wird.

Sechs kleinere amerikanische Bundesstaaten haben die Marke von siebzig Prozent erreicht, zusammen hatten sie zuletzt in einer Woche 18 Covid-Tote. Doch Herdenimmunität ist kein Thema mehr. Stattdessen heißt es allerorten, man müsse sich auf eine Fortsetzung der Pandemie einstellen. Auch in Berlin hat sich diese Botschaft verbreitet. Charité-Virologe Christian Drosten und fast im selben Wortlaut Bundesgesundheitsminister Jens Spahn verkündeten zuletzt: Das Virus bleibt, und früher oder später werden alle irgendwie Kontakt damit haben. Geimpft sei das allemal besser. Ist der Gemeinschaftsschutz damit also vom Tisch? Politisch mag das so wirken. Faktisch ist er es nicht.

Israel: Herdenschutz schon im März

Er könnte sogar ganz schnell wieder ins Spiel gebracht werden, wenn es nämlich gilt, den Korpsgeist der Bevölkerung für den "Endspurt" im Impfmarathon zu wecken. Israel steht dabei besonders im Fokus, es hat in jeder Hinsicht die Kurven in Rekordgeschwindigkeit abgeflacht.

Wissen war nie wertvoller

Die Infektionen im Land – und nicht nur die Zahl der Klinikeinweisungen und Toten – sind bei derzeit knapp 57 Prozent vollständig geimpften Personen um weit über neunzig Prozent gesunken. Und das mit der Verbreitung der deutlich infektiöseren "britischen" Virusvariante im Land. Ohne den harten Lockdown, der parallel mit der Impfkampagne verordnet worden war, wäre das sicher nicht so schnell möglich gewesen. Aber die Altersverteilung der Covid-Opfer machte auch sehr schnell deutlich, dass hier der Herdenschutz schon im März zu greifen begann. Und er greift umso besser, je stärker die Impfungen forciert werden. In Großbritannien und Amerika sieht man ebenfalls deutliche Impfeffekte. Beide Länder sind auf Kurs Herdenimmunität. Dennoch: Wie stark man darauf hoffen kann und wann die Corona-Maßnahmen endlich aufgehoben werden können, das ist trotz der leistungsstarken Impfstoffe unsicher.

Nicht jeder reagiert immunologisch gleich

Am Anfang schien die Gleichung für Herdenimmunität noch ganz einfach. Entscheidend ist der virustypische R0-Wert, der angibt, wie viele Menschen ein Infizierter im Schnitt ansteckt. Wenn er dauerhaft unter eins gedrückt wird, kann man die Seuche theoretisch so "ersticken" wie ein Feuer, dem man den Sauerstoff nimmt. Die Infizierten sind dann gewissermaßen umzingelt von immunen Geimpften, und die Infektionsketten werden unterbrochen. Allerdings müssen bei der infektiöseren britischen Variante mindestens 75 Prozent der Bevölkerung immun gegen den Erreger sein. Doch genau darin liegt die Krux: Was heißt immun?

In den anderthalb Jahren, in denen die Forscher Erfahrungen mit der Immunität von Genesenen und auch von Geimpften sammeln konnten, gibt es längst noch kein abgeschlossenes Wissen. Immunität kann individuell sehr verschieden sein. Deshalb werden acht bis neun von zehn Infizierten auch nicht schwer krank, und deshalb entwickeln schätzungsweise vier von zehn nicht einmal Symptome. Auch für die durch die Impfstoffe hervorgerufenen Impfreaktionen gilt: Nicht jeder reagiert immunologisch gleich.

Herdenimmunität ist also ein bewegliches Ziel – keineswegs nur, weil sich das Virus anpasst und mutiert, sondern auch der menschlichen Faktoren wegen. Für die Bestimmung der Herdenimmunität etwa ist die vereinfachende Annahme mitenthalten, dass die Infektionen mehr oder weniger gleichmäßig in der Bevölkerung auftreten. Das ist aber nicht der Fall. Dazu ist die Infektions- und Krankheitslast ex¬trem ungleich verteilt.

Superspreader aus dem Spiel genommen?

In einer neuen Studie wurde gezeigt: In nur zwei Prozent der Infizierten finden sich etwa neunzig Prozent aller Viren. Es sind solche "Superspreader", die das Feuer am Lodern halten, aber wer dazuzählt, ist kaum vorherzusehen. Ihr Immunsystem muss auch nicht einmal besonders wehrlos sein gegen das Virus. Und doch sind sie es, die das Infektionsgeschehen bestimmen. Werden Sie nach Impfung oder durchgestandener Krankheit immun, ist viel erreicht. Wie viele von ihnen bereits immunisiert wurden, ist unbekannt.

Allerdings legen die vielversprechenden Daten in den impfstarken Ländern den Verdacht nahe, dass man mit der Impfung der Vorerkrankten und älteren Bevölkerung viele der potentiellen Superspreader schon aus dem Spiel genommen hat. Ist es so, würde das den Schwellenwert für die Herdenimmunitätsschwelle senken. Wie stark die Schwelle nach oben oder unten von der errechneten Durchimpfungsrate von 70 bis 80 Prozent abweicht, hängt aber von noch sehr viel mehr Einflüssen ab: Von der Altersverteilung und der Bevölkerungsstruktur, aber auch davon, wie viele Kontakte die Menschen pflegen, wie sie die Schutzmaßnahmen einhalten, und von der Verbreitung der Virusvarianten.

Kurz gesagt: Das Erreichen der Herdenimmunität kann auch regional voneinander deutlich abweichen. Auch Rückschläge sind möglich.

Am Impfstoff scheitert es nicht

In einem Punkt immerhin herrscht große Zuversicht bei den Fachleuten. An den Impfstoffen wird das Erreichen einer möglichen Herdenimmunität nicht scheitern, jedenfalls nicht an den Wirkstoffen, für die aussagekräftige Daten vorliegen. Ausrotten lässt sich das Virus zwar kaum. Es kann mutmaßlich auch keine lebenslange Immunität erzeugt werden wie im Fall der Masern-Impfstoffe.

Aber nachhaltig wirken die Impfstoffe, und das auf historisch hohem Niveau. Denn ganz gleich, ob Genesene mit einer zusätzlichen Impfdosis versorgt werden oder die Menschen ausschließlich durch Vakzine immunisiert werden - bei den meisten Geimpften sacken die Zahl der "neutralisierenden" Antikörper und Immun-T-Zellen nicht so schnell wieder ab. Die Immunität lässt zwar im Laufe der ersten Monate sukzessive nach, aber am Ende reicht der Immunschutz dann doch möglicherweise weit mehr als ein Jahr.

Nur sehr wenige Geimpfte dürften trotz Impfung schwer erkranken, und selbst einfache Ansteckungen werden mit den Impfungen massiv unterdrückt. Ein "Booster", also eine Auffrischungsimpfung, könnte dennoch bald schon empfohlen werden - nicht zuletzt wegen der schwer kalkulierbaren Ansteckungsrisiken durch Virusvarianten.

Das katastrophale Covid-19-Feuer könnte aber bald erlöschen. Was bleibt, sind Schwelbrände. Solange Impflücken und Ausbreitungsgelegenheiten für das Virus in der vernetzten, globalisierten Welt bleiben, so lange bleibt auch Herdenimmunität eher ein regionales und manchmal vorläufiges Phänomen. Wer sich nicht impfen lassen kann, weil er zu krank dafür ist, muss vorerst mit dieser Unsicherheit leben. Hier ist die Politik gefordert. Gefordert ist sie aber auch im Kampf für eine "psychologische Herdenimmunität". Unter diesem Schlagwort fordern Mediziner inzwischen Kampagnen vom Staat, die sich gegen systematische Desinformation durch Impfskeptiker richten. Die Sabotage der Impfbereitschaft im Volk, warnen sie, könnte den Traum von der Erlösung aus der Pandemie verzögern.


Quelle: F.A.S. vom 17.05.2021